Rezensionen über
“Sterngucker und Totengräber”

Nexus Magazin Nr. 40 (April-Mai 2012)

Wissenschaft ist der letzte Stand des Irrtums - eine Weisheit, die alle Menschen klaren Kopfes und mit einiger Lebenserfahrung verstehen, die von den Priestern und Gläubigen der Wissenschaft aber für Blasphemie gehalten wird. Wie mit Ketzern umgegangen wurde, kennen wir aus der Geschichte. Aber hat sich in der Geisteshaltung der Menschen etwas geändert? Haben wir aus der Geschichte gelernt? Wer Velikovskys Memoiren zu seinem ersten Werk liest, hat daran Zweifel. Er beschreibt die Geschichte der Herausgabe und Rezeption seiner - wie ihm selbst durchaus bewusst war - unorthodoxen Theorie und versucht zu dokumentieren, was eigentlich geschah.
Was war so kontrovers an diesem Buch? Zunächst sieht er historische Überlieferungen und Legenden über Katastrophen, auch im Alten Testament, als Berichte über reale Ereignisse und nicht als Mythen oder göttliche Wunder. Er datiert diese Katastrophen auf das Jahr genau und synchronisiert die Geschichte mehrerer alter Kulturen neu. Zugleich wendet er sich gegen die Vorstellung einer kontinuierlichen Geschichte und eines kontinuierlichen Zeitverlaufs. Die von ihm postulierten kosmischen Katastrophen stellen zudem die Vorstellung über unser Sonnensystem infrage. Jetzt haben Sie vielleicht eine Vorstellung, in wievielen Wissenschaftsdisziplinen er gewildert hatte und wer sich alles auf die Füße getreten fühlen musste. Einen Spinner hätte man abtun können, aber Velikovsky war von seiner Ausbildung und Methodik, seiner Bildung und seinem Stil, von seinem gesamten Ethos her unverkennbar ein Gelehrter. Vielleicht war er einer der letzten Universalgelehrten, einer der im Gegensatz zu den meisten Professoren den Großteil seiner Zeit in Bibliotheken verbrachte. Entsprechend umfassend war sein Theorieentwurf, und welcher Wissenschaftler einer Einzeldisziplin konnte mit ihm auf Augenhöhe diskutieren?
Nachdem die Herausgabe des Buches, das schnell zu einem Bestseller geworden war, nicht verhindert werden und die öffentliche Diskussion Velikovsky nicht völlig als Spinner entlarven konnte, wurde mit miesen Tricks gearbeitet und hinter den Kulissen intrigiert, dass es einem die Fassung raubt.
Velikovsky hat mit diesen Memoiren versucht, Abstand zu gewinnen und die persönlichen Beleidigungen zu verarbeiten, aber er nennt auch Namen - die seiner Gegner und derjenigen, die sich für die Freiheit der Meinung und der Wissenschaft eingesetzt haben und dafür z.T. zahlen mussten. Dass er dabei immer sachlich bleibt, spricht für ihn. „Der Orthodoxe ist jemand, der im Einklang mit dem Denken des Tages ist,“ schreibt er (S. 213), und das ist keine Selbstbeschreibung. Auch wissenschaftshistorisch und -theoretisch ist dieses Buch eine spannende Fallstudie: Deutlich werden die Grenzen für das etablierte Peer-Review-Verfahren bei Texten, die die Grenzen der Wissenschaftsdisziplinen überschreiten, genauso wie die Tatsache, dass auch heute noch Diskussionen in den Wissenschaften vor dem Hintergrund einer Widerlegung der Bibel geführt werden, z. B. die (mir zumindest) unwirklich erscheinende v. a. amerikanische Debatte um „Intelligent Design“. Dass Wissenschaft bei der scheinbaren Widerlegung der Religion selbst zur neuen Religion geworden ist, war einigen großen Geistern schon im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts aufgefallen: heute ist es offensichtlich.
Unabhängig davon, ob seine Theorie stimmt oder nicht: Sie ist radikal und stellt nicht nur unser Weltbild, sondern auch das Selbstbild der Wissenschaftler in Frage. ln der Summe wäre statt der Beschreibung als „Geschichte einer versuchten Zensur“ „versuchte Bücherverbrennungen im Namen einer (falsch verstandenen) Aufklärung” treffender.